Kleine Farbenlehre zu einem Klassiker der Renaissance (und seinem Remake)
Rot

Wenn man an die englische Renaissance denkt, erwartet man keine Parallele zum amerikanischen Blues. Und doch verbindet Greensleeves, jenes berühmte Lautenlied des 16. Jahrhunderts, mehr mit diesem Genre, als man zunächst vermuten würde. Was beide eint, ist das „stille Echo“ einer unerwiderten Liebe.
Die Sehnsucht gehört zu jenen Erfahrungen, die so schmerzhaft verwurzelt sind in der menschlichen Existenz, dass sie diese kulturgeschichtlich überdauern. Wie blutrote Fäden ziehen sie sich durch die Jahrhunderte – alte Farbmuster in immer neuen Gewändern. Emotionaler Garn, das die unterschiedlichsten Stoffe der Kunst miteinander verwebt. Was uns zur nächsten Farbe führt – Grün.
Grün

In Greensleeves besingt der Erzähler die Liebe zu einer Frau, deren grünes Gewand zum Sinnbild seiner Hoffnung und Enttäuschung wird. „Greensleeves was all my joy / Greensleeves was my delight“ – die Farbe und das Kleid werden zu einer Projektionsfläche. Das Gewand kleidet nicht nur das Objekt der Begierde, sondern auch den Schmerz des Begehrenden. Und nicht selten spannt sich der Schmerz dergestalt über sämtliche Dinge der Lebenswelt – sofern sie grün sind natürlich. Für einen von Sehnsucht verrückt Gewordenen wird das Grün an sich zu einem Nadelstich.
Und es ist ein metabolischer, nein, ein „diabolischer“ Schmerz, genährt von der Hoffnung auf künftige Eroberung. Trotz gewaltigen Aufwands will sich diese aber partout nicht erfüllen.
Harmonisch schlägt sich diese Diabolik im C-Dur-Akkord des Refrains nieder, ebenso in der erhöhten sechsten Stufe – dem F♯ des dorischen A. Der dorische Modus ist dem äolischen (Moll-)Modus durch einen Halbton verwandt: In Moll würde ein F gespielt, doch mit dem F♯ klingt Greensleeves eine Idee heller – als flackerte die Hoffnung noch einmal auf, bevor sie sich in Enttäuschung verwandelt.
Blau

Der Begriff Blues geht zurück auf die Wendung „to have the blue devils“, was so viel bedeutet wie „von Melancholie oder Depression geplagt sein“. Schon im 18. Jahrhundert wurde „blue“ mit Traurigkeit und emotionaler Niedergeschlagenheit assoziiert. Diese Bedeutung floss später in die Musik ein, die genau diese Gefühle ausdrückt: Sehnsucht, Schmerz, unerwiderte Liebe.
„Got my Mojo working but it won’t work for you“ – klagt zum Beispiel Muddy Waters, und auch Eric Clapton wusste ein Lied von dunklen Emotionen zu singen. Seine Angebetete, Pattie Boyd, war niemand Geringeres als die Frau des Ex-Beatle George Harrison. Das ihr gewidmete Lied Layla, mit dem legendären Intro-Riff, eroberte 1971 die weltweiten Charts. (Nicht nur die Charts – zum Glück für Clapton auch Patties Herz!)
Ein Erfolg wie 400 Jahre zuvor Greensleeves, könnte man hinzufügen. Hätte es damals schon Hitparaden gegeben, wäre das Lied mit ziemlicher Sicherheit auf Platz 1 der Renaissance-Charts gelandet. Shakespeare verweist in den Lustigen Weibern von Windsor mehrfach auf die Melodie – sie muss dem Volk also wohl bekannt gewesen sein.
Die „Bläue“ des Blues zeigt sich musikalisch in den sogenannten blue notes – seltsame Klanggebilde, die irgendwo zwischen Moll- und Dur-Terz schweben. Selbst die verminderte Quinte zählt laut neuer Harmonielehre nicht zu den blue notes: Sie liegt „ein wenig tiefer als die Quinte“ (Haunschield, 1994) und muss gezogen werden. Was zu der nicht unberechtigten Frage führt, ob sich ein Blues auf einem Tasteninstrument überhaupt authentisch spielen lässt.
Auf der Gitarre hingegen ist er zweifellos spielbar – das wissen wir seit den frühen Bluesmen im Mississippi-Delta.
Resumee
Ausgehend von der Farbe Rot, die für uns das wie das zirkulierende Blut im Körper die „ewige Wiederkehr der Schmerzen“ symbolisiert, kamen wir über Grün, der Farbe der trügerischen Hoffnung – sie lebt von den lichten Momenten (joy / delight) -, zu einer neuen Farbe – dem Blau des Blues. Wenn der Teufel eine Lieblingsfarbe hätte, es wäre wohl Blau. Die blue note ist der Ort der absoluten Hoffnungslosigkeit und als solche des Teufels liebstes Versteck. Sie markiert gleichzeitig die Grenze zwischen dem simplen Gefühl der Traurigkeit und einer schweren Stimmungsstörung – einer Depression.
Was heißt dies aber nun musikalisch? Wird das grüne Kleid der Ms. Greensleeves mit den eingewebten roten und blauen Pigmenten noch zu einem Leichengewand? Und das Stück selbst zu einem Begräbnislied ? Müssen wir unserer kleinen Farbpalette gar noch das Schwarz beifügen? Keineswegs. Nimmt man das hoffnungsvolle C im Refrain und fügt dem Dreiklang die kleine Septim hinzu, so entsteht ein – bluesiger – C7-Akkord. Und Septim-Akkorde sind vom Sterben denkbar weit entfernt: sie leben, sie klingen, sie treiben ihren Schabanack.
Video
Noten / Tabs

Bluesleeves
A classic reborn – Transkription in Noten und Tabulatur-Form.
1,90 €
Mit Musik seinen Lebensunterhalt zu verdienen wird immer schwieriger. Digitale Musik bringt keinen Erlös. Faire Konzertgagen sind selten und der Instrumentalunterricht gerät zunehmend in die Hände von KI-Apps. Eine Spende hilft. Und garantiert weiteren authentischen Content.
KI findet in der Bildgenerierung Verwendung (WordPress), regelmäßig bei der Kontrolle der Rechtschreibung und bei Übersetzungen (Llama 4) .
Einmalig spenden
Monatlich spenden
Jährlich spenden
Wähle einen Betrag
Oder gib einen anderen Betrag ein
Vielen Dank für deine Spende!
Vielen Dank für deine Spende!
Vielen Dank für deine Spende!
SpendenMonatlich spendenJährlich spenden